Über die Hutschnur … Beispiel Odenwaldschule

Mitunter meine ich, Dinge einfach tun zu müssen, ohne mich darum zu scheren, was andere davon halten. Das war z.B. vor rund 30 Jahren der Fall, als ich unter dem Eindruck „Fassadenbegrünung tut not, muss aber besser gemacht werden“ anfing, Kletterhilfen zu bauen statt Architekt zu werden.

Meine persönlichen Ressourcen für weitere Engagements sind seit dieser Entscheidung weitestgehend ausgeschöpft. Aber ab und an gehen mir doch andere Dinge um mich herum so weit über die Hutschnur, dass ich die verbliebenen Kräfte für oder gegen etwas einsetze – manchmal auch öffentlich.
Dafür, dass ich (nun schon zum 2. Mal) dafür auch meine fachspezifische Webseite benutze, möchte ich mich hiermit bei allen fachlich orientierten Lesern entschuldigen – aber auch anmerken, dass der „Kampf pro Grün“  (am Bau oder sonstwo)  letztlich auch eine soziale Initiative unter vielen anderen darstellt. Sie alle haben gemeinsam, dass ihr Erfolg von den Rahmenbedingungen abhängt.  Man wird z.B. weder erfolgreichen Umweltschutz erreichen können, solange rücksichtslose Ausbeutung Usus ist, noch soziale Gerechtigkeit oder auch nur gleiche Bildungschancen realisieren, solange sich die Wohlstandsgefälle vergrößern.

Nun zum heutigen Anlass, dem Schicksal der Odenwaldschule und von Menschen um sie herum. Das verfolge ich als ehemaliger Schüler seit 2010 mit einer gewisssen (Mit)Betroffenheit mehr oder weniger von außen und vorrangig als „Medienkonsument“, aber auch über soziale Netzwerke und Foren.
Ein weiterer m.E. unprofessionell tendenziöser Zeitungsartkel, hier „Ein Mythos, der nie einer war“ (Jeanette Otto, Die Zeit Nr 18/2015 vom 29.04.2015)  motiviert mich zur Meinungsäußerung außerhalb geschlossner Gruppen:

Ende oder Fortbestand der Odenwaldschule?
(Gedanken eines ehemaligen Schülers, Stand 2.5.15.)

Allgemeine Grundlage – aktuell

Die im Süden Hessens gelegene und in den letzten Jahren durch Berichte über schier unfassbaren sexuellen Missbrauch berühmt und berüchtigt gewordene Odenwaldschule muss wahrscheinlich ihren Betrieb einstellen. Tatsächlich hat der Verein Odenwaldschule e.V. (Schulträger), dessen Vorstand aktuell zurück getreten ist, kürzlich die Schließung der Schule mit Ablauf des Schuljahres beschlossen. Grund: Die gemäß dem hessischen Ersatzschulfinanzierungsgesetz erforderliche Finanzierbarkeit von mindestens drei Betriebsjahren konnte/kann nicht gewährleistet werden.
Diese Entscheidung stößt jedoch auf starken Widerstand insbesondere der aktuellen Schüler, ihrer Eltern, Mitarbeiter und sog. Altschüler. Sie versuchen seit ihrer Bekanntgabe sehr engagiert, die bestehende Finanzlücke zu schließen. Vielleicht haben sie sogar Erfolg.

Persönliche Verbundenheit

Als Sohn eines ehemaligen Mitarbeiters habe ich selbst die Odenwaldschule von 1959 bis 1971 besucht. Das war seinerzeit für alle Kinder aus Oberhambach „alternativlos“. Auch meine jüngeren Geschwister haben dort ihr Abitur gemacht. Mein Elternhaus steht oberhalb der Schule. Ihr Anblick dominiert die dortige Aussicht ins Tal.
Das klingt nach großer Verbundenheit – täuscht aber. Im Gegensatz zur Mehrheit der so genannten „Altschüler“ (Ich lerne seit 44 Jahren ganz woanders.) habe ich die „OSO“ nie als ideal angesehen – insbesondere nicht als der „Schönschwätzer“ Gerold Ummo Becker (Haupttäter) schon vor seiner Übernahme des Schulleiterpostens m. E. unangemessenen Einfluss gewann. Letzteres war aber keinesfalls eine primäre Folge schulinterner Schwächen, sondern viel mehr Resultat externer bildungspolitischer Entscheidungen.

„Mythos“ Odenwaldschule – bzw. „Von nun an ging’s bergab…“

Der angebliche „Mythos“ der Odenwaldschule ist spätestens ab Ende der 1960er Jahre vor allem das Werk eines „Netzwerkes* angeblich fortschrittlich denkender prominenter und einflussreicher Personen außerhalb der OSO. Etwa als er zu Beckers Spätzeiten seine letzte Blütezeit hatte, befand sich die Schule tatsächlich auf dem Höhepunkt ihrer Verwahrlosung, insbesondere in pädagogischer Hinsicht. Niemand hinterfragte den schönen Schein oder wagte gar, sich mit Kritik lächerlich bzw. „untragbar“ zu machen Als der gute Ruf – aktuell „Mythos“ – einen Höhepunkt erreicht hatte, handelte es sich längst um ein Trugbild, dessen ungeprüfte Schönfärberei allgemein en vogue war. Pädagogen und (Bildungs)Politiker überboten sich in Lobpreisung, die Presse tat im gleichen Sinne ihr Bestes und eine Schulaufsicht gab es praktisch nicht….

Ich persönlich war niemals der Meinung, eine beachtenswert besondere Schule zu besuchen und vielfach unzufrieden mit diesem doch sehr speziellem „Lebensraum“. Aber ich wusste trotz fehlender praktischer Vergleichsmöglichkeit, dass die Odenwaldschule Potenziale aufwies, die andere Schulen nicht bieten konnten. Z.B. habe ich selbst als einer der ersten Schüler vom (damals beginnendem) Angebot der parallelen handwerklichen Ausbildung profitiert. Auch der „Unterricht nach Themen“ (statt nach Fächern), der gerade in Finnland eingeführt wird, ist schon zu meiner Zeit an der Odenwaldschule Alltag gewesen. Im Pflichtfach „GU“ (Gesamtunterricht) der Oberstufe wurden Themen wie z.B. „Zeit“, „Geld“ oder „Wachstum“ fächerübergreifend behandelt.

Ende mit Schrecken oder Schreck ohne Ende?

Das alles ist jedoch hinsichtlich der aktuellen Frage „Schließung oder Weiterführung?“ Schnee von vorgestern. Sie kann nur entsprechend einer objektiven Bewertung künftiger Perspektiven richtig beantwortet werden..
Ich persönlich halte dafür eine primär finanzielle Beurteilung nicht für zweckmäßig. Die der Schule derzeit fehlenden ca. 2 Millionen Euro würden anderenorts mal gerade für Bau und Ausstattung z.B. einer etwas besseren Turnhalle ausreichen. Daran macht man vernünftigerweise keine Entscheidung über das Schicksal einer vollständig betriebsbereiten (Heim)Schule fest.
Ebenso wenig sollten rein emotionale Beurteilungen aller irgendwie von einer Schließung der Schule Betroffenen oder gar die Überdrüssigkeit der Öffentlichkeit am Thema darüber schwerpunktmäßig entscheiden. Zweckmäßig ist nur eine sachliche Entscheidung nach objektiver Prüfung aller relevanten Aspekte.
„Stimmungsmache“ ist dazu gänzlich unangebracht. Ebenso wie ich es prinzipiell ablehne, Kinder (hier aktuelle Schüler) an die „Front des Meinungskampfes“ zu schicken, stört mich eine tendenziöse Berichterstattung der Presse. Z.B. werden die denkmalgeschützten Häuser der Schule gerne (also wiederholt) als „Hexenhäuschen“ bezeichnet. Tatsächlich handelt es sich um Bauten im (regional geprägtem) Jugendstil des Architekten Heinrich Metzendorf, auf den u. a. die Dortmunder Gartenstadt zurückgeht. Sein Bruder Georg, mit dem er zeitweise ein gemeinsames Büro führte, ist u. a. durch die Margarethenhöhe (I) in Essen bekannt geworden. Die angeblichen „Hexenhäuser“ sind also unstrittig gute Architektur des frühen 20 Jahrhunderts und verdienen somit eine journalistische Verunglimpfung ebenso wenig, wie z.B. das Pressehaus mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit in dem seinerzeit unter dem Hakenkreuz Journalismus betrieben wurde und heutzutage „Die Zeit“ entsteht.
Statt von „Hexenhäusern“ zu fabulieren, sollten Journalisten Bauten und Gelände der Odenwaldschule eher unter folgendem Aspekt beurteilen: „Je weniger Freizügigkeit, je weniger Anschauung der Natur mit ihren biologischen Prozessen, je weniger Kontaktanregung zur Befriedigung der Neugier, desto weniger kann ein Mensch seine seelischen Fähigkeiten entfalten und mit seinem inneren Triebgeschehen umzugehen lernen.“ (A. Mitscherlich, 1965)

Versuch einer objektiveren Beurteilung

Die Odenwaldschule ist eine aktuell sehr überschaubare Ganztagsschule (Gesamtschule) mit Internat in freier Trägerschaft. Reformpädagogisch orientiert und konsequent ihr Konzept der integrierten Gesamtschule entwickelnd wurde sie In den 1960er Jahren Projektschule der UNESCO. Dieser Status ruht seit 2014 vorrangig aufgrund ihres Versagens in der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Obwohl diese bereits 1998 öffentlich wurden, fanden sie erst nach erneuter Veröffentlichung 2010 öffentliche Beachtung. Die Odenwaldschule – aber mit ihr auch die gesamte Gesellschaft inklusive Presse und sämtlicher Aufsichtsbehörden – hat also seit mindestens 1998 in Hinsicht auf Schadensminderung in erschreckender Weise versagt.

Erst vor wenigen Wochen ist es den Verantwortlichen der Odenwaldschule gelungen, sich auf ein wahrscheinlich zukunftsfähiges Konzept zu einigen, das langfristig sowohl erfolgreiche Aufarbeitung als auch (wieder) vorbildliche Erziehung und Ausbildung verspricht. Dazu wurde die Abschaffung der alten Strukturen vergangener Jahrzehnte beschlossen und seitens der Institution wird jetzt glaubwürdig Verantwortung übernommen.
Unbestritten hätten diese Schritte so oder ähnlich spätestens vor vier bis fünf Jahren erfolgen müssen. Es ist jedoch niemandem gelungen – weder aus internen noch aus externen Kreisen – schnelleres Umdenken der Verantwortlichen und obendrein tatsächlich zweckmäßige Veränderung(en) zu erreichen. Das hat wohl weniger an fehlendem „gutem Willen“, als an einer Unfähigkeit zu konsequentem Handeln gelegen. Sicherlich spielten dabei scheinbare Gegensätzlichkeiten von Prioritäten eine Rolle. Tatsächlich muss man bisher von einem gescheiterten Aufarbeitungsprozess sprechen. Über die Ursachen kann man trefflich streiten – ihre Analyse bedarf wohl wissenschaftlicher Bearbeitung.
Jedenfalls lieferte die Öffentlichkeit, speziell Behörden, Politik und Presse weniger nützliche Beiträge als eher diffus wirkenden Druck. Z. B. hat die vom Land Hessen herausgegebene bundesweite „Warnung“ der Jugendämter vor der Inanspruchnahme von Heimplätzen an der OSO in keiner Weise einen konstruktiven Beitrag zur Problemlösung geleistet, sondern nur zur Beschneidung ihrer finanziellen Möglichkeiten – auch zur Aufarbeitung – beigetragen. Zunehmend erfolgte eine Verurteilung der Institution, bei der man sich fragen darf oder muss, ob diese ihrer Schuld umfänglich angemessen war. Begriffe wie z.B. „Täterinstitution“ erscheinen mir persönlich in dieser Hinsicht grenzwertig. Die Institution Odenwaldschule hat die Taten nicht begangen, aber weder verhindert noch unterbunden und auch nicht zu rechtzeitiger und vollständiger Aufklärung ausreichend beigetragen.

Perspektive(n)

Wie bereits geschrieben, schien es vor einigen Wochen so, als könne die jüngste Leitung der Odenwaldschule die angehäuften Versäumnisse doch noch – wenn auch verspätet – abarbeiten. Die „Neue Odenwaldschule“ schien es Anfang des Jahres tatsächlich zu geben und sie erweckt(e) sogar den Eindruck, wieder über solche Potenziale zu verfügen, die eine Modellschule bzw. eine UNESO Projektschule auszeichnen sollten. Das würde eine weitere – ggf. auch öffentliche – Finanzierung des Schulbetriebes m. E. objektiv rechtfertigen und zweckmäßig machen.
Das große Engagement, mit dem aktuell insbesondere die Eltern aktueller Schüler um den Erhalt der Odenwaldschule kämpfen, darf man sicher als Bestätigung dieses Eindruckes werten. Ebenfalls spricht die sehr wahrscheinliche Absicht der Aufsichtsbehörde, bei fristgerechter Erfüllung der finanziellen Voraussetzungen der neu organisierten Schule (eGmbH) eine unbefristete Betriebsgenehmigung zu erteilen, dafür.
Unter diesen Voraussetzungen sollte die Odenwaldschule m. E. jetzt doch noch eine Chance bekommen, zukünftig ihrer Verantwortung und gesellschaftlich zweckmäßigen Aufgaben gerecht zu werden.

Persönliche Wertung

Aus meiner Sicht haben die Missbrauchsopfer einen Anspruch, nicht automatisch mit der OSO in Vergessenheit zu geraten und die Gesellschaft sollte sich bewusst sein, dass die Schließung der Odenwaldschule in jedem Fall einen Verlust für das Bildungswesen darstellt. Letzteres kann man natürlich leugnen aber dann muss man sich fragen lassen, wie viele Schulabbrecher oder gar –versager sich unsere Gesellschaft leisten kann und will. Diese Abwägung sollte auch unter Berücksichtigung unserer Realität in der Jungendhilfe erfolgen. Dazu gehören Vorkommnisse wie jenes, über das die ARD vorgestern berichtete. (Sendung „Monitor“ vom 30.4.2015; Beitrag „Mit Kindern Kasse machen? Wie Heimkinder ins Ausland verbracht werden“) Danach wurden (und werden) Kinder zu Preisen > 5000,- Euro monatlich zur Verwahrung nach Ungarn abgeschoben wo sie praktisch keine Schulbildung erhielten, bzw. erhalten. Solche hoffentlich gut recherchierten – Berichte lassen die Qualität und die Preiswertigkeit der Odenwaldschule in einem ganz anderen Licht erscheinen als ihr derzeit m. E. unangemessen ramponiertes Image. Aus dieser Perspektive kann man die Schließung der Odenwaldschule nur als üblen Schildbürgerstreich ansehen.

Mir scheint, als gäbe es Parallelen zwischen dem Abstieg der Odenwaldschule und dem Märchen von „Hans im Glück“.  Aus dem wertvollen Ergebnis langer Arbeit wird durch Bequemlichkeit und Fehlbewertung immer weniger bis Hans den ganzen „Ballast“ los ist“ …

Ich halte es jedoch in diesem Fall sozial nicht für geboten, der Geschichte weiterhin ihren Lauf Richtung bitteres Ende zu lassen. Deshalb trete ich aktuell für aktive Unterstützung der Odenwaldschule ein.

Nachträge:

1. In zahlreichen Presseveröffentlichungen wird über Initiativen (Demos, Spendenaufrufe, Finanzierung über einen Fond usw.) berichtet, die Schüler, Eltern, Altschüler und sonstige Förderer kurzfristig ergriffen haben.
Wie weit und von wem diese Unternehmungen aktuell koordiniert werden, ist den Berichten bisher nicht konkret zu entnehmen und auch mir (noch) nicht bekannt. Zur vermutlich aussichtsreichsten Initiative (Fondsmodell) ist eine Informationsveranstaltung im Theatersaal der Schule am Sonntag den 03.05.2025;16.00 Uhr geplant. Danach wird es sicherlich weitere Veröffentlichungen, bzw. Informationsmaterial geben.
Deadline für die Regelung der Finanzierung ist der 08.05.2015.

2. Ich danke der TAZ für den soeben erschienen Artikel „Die Odenwaldschüler kämpfen“ (http://www.taz.de/!159214/). Da kann ich ein „Siehst’e mal, geht doch!“ nicht ganz unterdrücken. 🙂

3. Lesenswerter Leserbrief vom Vater eines Schülers der Odenwaldschule, erschienen bei Morgenweb: „Kritischer Blick auf Aufsichtsbehörden der Odenwaldschule„; © Bergsträßer Anzeiger, Montag, 04.05.2015.

4. Seit einigen Tagen informieren Förderer der Odenwaldschule bei Facebook auf der Seite „Rettet die OSO“ konkret über die Fakten Möglichkeiten, ihr Anliegen zu unterstützen. (Kontaktadressen, Bankverbindungen usw.)
5. 08.05.15 – Eine Webseite „Rettet die OSO“ (http://rettetdieoso.de/) ist online. (Webblog, WordPress)

15.05.15 –  Zwischenergebnis – „Rettung“ der Odenwaldschule in Sicht

Die Finanzierung der Odenwaldschule für kommende Schuljahre steht. Das vom TV-Vorstand ermächtigte Leitungsteam hat die Weiterführung des Internats- und Schulbetriebes – vorbehaltlich des Erhalts der Betriebsgenehmigung – bekannt gegeben. Mehr dazu z. B. auf HR online.

Kontaktadressen:

Odenwaldschule
Altschülerverein der Odenwaldschule (ASV e.V.)
Eltern und Förderer der Odenwaldschule (Verein in Gründung)